Everlong
- Yves Tscherry
- 23. Sept. 2019
- 3 Min. Lesezeit
Montag
Um 10 Uhr morgens gehe ich aus dem Haus. Die Sonne strahlt hell in vollem Glanz. Doch leider sehe ich sie nicht. Eine Dicke Wolkendecke hängt über der Stadt. Die Temperatur ist drastisch gesunken, etwa 8 Grad und leichter Nieselregen.
Unter diesen Bedingungen draussen Gitarre zu spielen ist hart; nach einer halben Stunde spüre ich meine Finger nicht mehr, taub und starr vor Kälte. Die Saiten fühlen sich an wie etwas Fremdes, mir Ungewohntes.
Einen Vorteil hat das Ganze: es gibt nicht viele andere Verrückte, die das bei dieser Kälte durchziehen. Heisst für mich, mehr Aufmerksamkeit :)

Die guten Spots zu finden gestaltet sich nach wie vor nicht einfach. Einerseits darf das "Hintergrundrauschen" der Stadt nicht zu laut sein, da ich ohne künstliche Verstärkung musiziere. Anderseits bin ich auf möglichst viele Passanten angewiesen um potentiell mehr Kohle zu scheffeln.
Zuerst versuche ich es an ein paar belebten Einkaufsstrassen. Nicht gut. Hier haben die Leute offenbar ein klares Ziel und scheinen mehrheitlich fokussiert unterwegs zu sein.
Es verschlägt mich in einen kleinen Park. Ich installiere mich auf einer Bank und mache zuerst noch ein paar Liegestütze um meinen Körper auf Temperatur zu bringen :) Die "Park-Pflege-Fachfrau" (keine Ahnung ob das politisch und/oder fachlich korrekt ist) hält bei mir an - in der einen Hand einen grossen Sack mit Grünabfall und in der anderen Hand eine riesige Heckenschere - und hört sich noch die letzte Strophe von "Hurt" an. Sie entschuldigt sich, dass sie kein Kleingeld dabei hat und geht weiter.
Und weiter gehts zum Hauptbahnhof. Vor dem Ausgang stelle ich mich am Ende einer langen Treppe auf. Auch hier wirken die Passantinnen und Passanten eher gestresst. Ein junger Mann hält an. Er schaut und hört mir scheinbar interessiert zu. Dass ich diese Zeichen falsch gedeutet habe merkte ich erst als er mich fragte: "Do you know where I can buy LSD?".
In einer Seitenstrasse finde ich einen gemütlichen Platz. Viele Leute, wenig Lärm, perfekt. Nach einer halben Stunde - ich wollte schon weiterziehen - hielt eine der ungefähr 10'000 Gypsies, die sich hier in der ganzen Stadt rumtreiben, an. Ich war gerade bei "Hey Joe". Sie flippte förmlich aus und lieferte eine derart sinnliche Tanzperformance ab wie ich es noch selten live gesehen habe. Als ich mit dem Geklimper fertig war, nahm sie 10 Kronen (1 Franken) aus ihrem Bettelbecher und warf ihn in meine Gitarrentasche. Ein rührender Moment.

Zum Schluss gehe ich nochmals vor das Operngebäude. Es ist einfach ein schöner Ort und ich geniesse noch für eine halbe Stunde die wärmende Sonne, welche sich nun doch noch kurz zeigt. Ich spiele gerade "Everlong" und bemerke einen Security-Mann, der für meine Verhältnisse zu ernst, zu gestresst und mit jeweils einem Funkgerät in beiden Händen auf mich zuläuft. Etwa einen Meter vor mir bleibt er stehen. Als er anfängt mit seinem rechten Bein im Takt vom Song zu wippen kann ich über seine düstere Mine hinwegsehen. Er hört sich den Song bis zum Ende an. "Wow, I love Foo Fighters. And you really perform it great. But you have to leave, otherwise I myself get into trouble". Als er mit der Hand an seine Gesässtasche greift bekomme ich Angst... Was kommt jetzt? Handschellen? Pfefferspray? :) Ein Sugus? Er zückt seinen Geldsack, wirft 20 Kronen (2 Franken) in meinen Sack und verabschiedet sich.
Es war ein kalter, jedoch erlebnisreicher und befriedigender Tag. Total habe ich inzwischen rund 50 Franken für das Fattighuset gesammelt.





Viele Eindrücke und Erlebnisse. Lieber Gruss